Dörthe Eickelberg
Augen Unterschrift

Ein Reisebericht

Der Amazonas begrüßte mich mit einer heißen, satten Ohrfeige. Ich blickte mich um und suchte nach dem gigantischen Fön, den irgendwer doch hier irgendwo versteckt haben musste. Ich fand einen freundlich lächelnden Mann, der mich gleich mit Namen begrüßte: Carlos, Entwicklungshelfer. Er sah nicht aus, wie er sich nannte, da seine Vorfahren aus Polen kamen. Summend verstaute er mein Gepäck gleich in seinem alten VW Käfer. Über staubige Lehmstrassen fuhren wir in Richtung Santarém, es war noch früher Morgen. Alles, wirklich alles sah anders aus. Bäume und Büsche in allen erdenklichen Grüntönen, eigenartige Palmen, die sich zum Himmel streckten, selbst die Erde trug ein sattes, fremdes Rot. In der Peripherie stapelten sich provisorisch zusammengestellte Papphäuser, dann, im Zentrum Santaréms, mehrten sich einstöckige Gebäude aus Stein, teilweise fensterlos, wie Garagen, in denen Familien zwischengeparkt werden. Auf den Laternenmasten, in den Pfützen am Straßenrand, neben den Müllhalden, überall sammelten sich Aasgeier, die Köpfe zerschrumpelt wie frisch erstarrter Asphalt. Entlang der Bürgersteige verliefen ungeschützte
Wassergräben, so breit und tief, dass eine halbblinde Oma hineinstolpern und
spurlos verschwinden könnte. Ob man sie suchen würde? Ob man die Stadt verklagen könnte? Ob das hier irgendwen interessierte? Folgerichtig bekam unser Vorderreifen einen Platten. Wir rollten aus bis zu einer kleinen Werkstatt, in der ein Mechaniker den Autoreifen gleich wieder mit einem Fahrradschlauch aufpumpte. In der Hornhaut der Füße des Mechanikers klafften tiefe, dunkle Risse, beinah so tief wie die Wassergräben und etwa so viele wie in dem besagten Autoreifen. Wie praktisch es wäre, wenn man aufgerissene Hornhaut auch einfach aufpumpen könnte wie einen alten Autoreifen, dachte ich, als wir auch schon wieder weiter fuhren.

Es hieß, ich dürfe teilnehmen bei einer Exkursion der Nichtregierungsorganisation „Saude e Alegria“. Ziel der Reise sei eine kleine Gemeinde am Ufer des Amazonas. Die Entwicklungshelfer hatten dort kürzlich eine Wasserpumpe installiert, nun wollten sie nachsehen, ob sich die Bewohner mit dieser neuen Einrichtung anfreunden konnten – Hilfe zur Selbsthilfe. Mit Carlos waren es drei Entwicklungshelfer: Ruiz, der seine sichere Stelle beim Ministerium von Brasilia aufgegeben hat, um nun für diese NGO zu arbeiten, und Karien, eine Sozialarbeiterin aus Holland. Meine Rolle musste erst definiert werden. Ich war kein Tourist, denn dafür wäre das Ziel wohl doch nicht komfortabel genug, und Touristen sind nicht gerade der Ballast, den Entwicklungshelfer auf ihrem Arbeitsweg mitnehmen
wollten. Was also dann mein Anliegen sei, fragte Karien. Ich überlegte. Ich will Menschen treffen, sagte ich, die ein ganz anderes Leben führen als das, in das ich hineingeboren wurde. Ich will von ihnen lernen; die Unterschiede sehen und die Ähnlichkeiten finden, ich will alles aufsaugen und davon erzählen, in Bildern und Worten oder am besten beides gleichzeitig. „Sag doch gleich, dass du Journalistin bist“, bemerkte sie, und von fortan wurde ich als solche vorgestellt.  

Zu Fuß bahnten wir uns einen Weg zum Hafen, vorbei an üppig gefüllten Marktständen. Weit hinten badeten die Boote ihren Bauch im Sand; lauter zweistöckige Holzschiffe mit einer überdachten Veranda, auf der man sich eine Hängematte aufhängen konnte. Unser Boot war ein öffentliches Verkehrsmittel, ähnlich wie ein Bus fuhr es eine bestimmte Route ab, nur die Fahrzeiten waren nicht ganz so voraussehbar. Am Oberdeck klemmten Haken an der Decke, groß genug, um eine Reihe von Hängematten daran zu befestigen. Ein paar Kinder kletterten noch auf die einzelnen Boote und boten Selbstgebackenes zum Verkauf, dann robbte sich das Boot aus dem Schlamm aufs freie Wasser hinaus; auf den trägen, breiten Amazonas. Auf dem Übergang von der einen Flussader zur anderen wechselte er die Farbe von flaschengrün zu hellbraun, es gab drei Farbschattierungen hier, und wir befanden uns im hellen Wasser, wie ich lernte. Langsam zog der Regenwald an uns vorbei, die Passagiere schaukelten in ihren Hängematten. Die Spiegelreflex in der einen Hand, das Fernglas in der anderen, kletterte ich rastlos auf dem Schiff herum, dazwischen viele Fragen an Karien und einige erste portugiesische Worte mit Ruiz und Carlos. Ab und zu machte das Boot unvermittelt am Ufer Halt, woraufhin aus dem Nichts zwei, drei Männer erschienen. Auf ihren Köpfen balancierten sie Kartons mit Kokosnüssen und gigantische Melonen, die sie kommentarlos zum Boot trugen. Eine Kuh stampfte herbei und sagte irgendwas, das keiner verstand. Nachdem alle Melonen und Kokosnüsse ausgetauscht und somit der Im- und Export mit den Bewohnern der Böschung vollendet war, legte das Schiff wieder ab und fraß sich langsam weiter durch die trüben Fluten.

Am späten Nachmittag erreichten wir unser Ziel: Santana, die Flussgemeinde, deren Wassersystem überprüft werden sollte. Die Eingangstore zum Dorf markierten ein strahlend weißer Sandstreifen, umrahmt von hohen Palmen.   Kinder sammelten sich am Ufer, betrachteten neugierig die Gäste, der Kapitän krempelte seine Hosen hoch und watete durch das Wasser, um Reis und Waschmittel zu entladen. Fließend ging er zu seiner Zweitbeschäftigung über, dem Betreiben der dorfeigenen Bar mit integriertem Tante Emma-   Laden. Wir wurden derweil von Jorge empfangen, für das Dorf der offizielle Bürgermeister / Grundschul- Lehrer / Vizepräsident des ortsansässigen Fußballclubs. Für uns war er der Gastgeber und Entertainer. Die weiß gestrichenen Holzplanken verrieten: er war der wichtigste Mann im Dorf. Jorge schlug uns jovial auf die Schultern und servierte Bier in großen Flaschen. Sollte ich Verständigungsschwierigkeiten haben, raunte er mir zu, könne ich mich an ihn wenden, denn er spräche auch englisch – er sei nämlich auch Englischlehrer. Ein paar Sätze später wusste er bei meiner Frage "und wie alt bist du?" nicht mehr weiter. Wir wurden uns schnell einig, doch besser beim Portugiesischen zu bleiben. Karien, Rui und Carlos kramten derweil Shampoo, Duschgel und Nagelbürste aus ihren Taschen. Die Badewanne war nur wenige Schritte entfernt und nannte sich Amazonas. Ich wusste, dass dieser Moment kommen würde und hatte Vorsorge getroffen: mehrere Packungen Erfrischungstücher und zum Nachtisch Sagrotan. Nein, geht Ihr allein baden, sprach ich - lieber wollte ich das schöne Abendlicht für Photos nutzen, denn der Sonnenuntergang hier kam schnell und jedes Mal viel zu früh. Im Subtext hieß das: ich bin nassgeschwitzt und brauche nichts dringender als ein Bad, doch lieber klebe ich an meinen langen Hosenbeinen fest, als dass ich mir das Flusswasser teile mit einer Schar ungezählter, noch nicht definierter Insekten, die ihre Eier unter der Haut von menschlichen Besuchern aus Übersee ablegen, damit es die Kinder später mal besser haben als man selbst. Die drei hatten meine Gedanken nicht zuende gelesen, da sie bereits am Ufer waren. Ich streifte derweil die Gegend ab. Die größte und einzige Straße war ein Streifen Sand, geebnet von vielen Büffelhufen und ein paar Holzkutschen. Von der Hauptstrasse aus führten enge Trampelpfade zu den Behausungen, zusammengezimmerte Holzlatten auf Pfählen. Büffel grasten im Vorgarten, Hunde stritten sich mit Katzen um den Abfall, Hühner besuchten sich gegenseitig im Haus der Nachbarn, alle führten eine friedliche, rein zweckgebundene Koexistenz. Das schönste Motiv aber waren die Kinder, für mich sah jedes aus wie Mowgli im Dschungel. Wenn sie durch das Gebüsch streiften und die Abendsonne im Rücken ihre Konturen hell nachzeichnete, war das ein so malerischer Anblick, als wäre alles inszeniert. Befremdet starrten sie auf die Weiße, die mit ihrer Kamera die Gegend absuchte. Wenn ich sie anlächelte, näherten sie sich flüsternd. Am Fluss hatten die Mütter ihre Kinder zuende gewaschen, nun war die dreckige Kleidung an der Reihe. Es war bereits dunkel, als ich das Pfahlhaus von Jorge, unserem Gastgeber, erreichte. Die weiß gestrichenen Holzplanken verrieten: er war der wichtigste Mann im Dorf. Und jetzt: Musik! rief Jorge. Er kurbelte ein unförmiges Gerät an, und nach einigen Umdrehungen drang tatsächlich Radiomusik aus den Lautsprechern. In der Mitte des dritten Liedes brach die Musik ab. Jorge kurbelte aufs neue. Besser als jedes Hanteltraining, deutete er gestisch an. Carlos lachte; er lachte sehr oft, was ihn sehr sympathisch machte. Ob ich denn auch schon die Aranha photographiert habe, fragte Carlos mich. Ich lachte zurück und nickte schief, da ich nichts verstanden hatte, wie so meistens. "Komm mit, ich zeig sie dir", sagte er. Wollte er mir nun Orangen zeigen, oder was meinte er mit dem Wort "Aranha"? Vorsichtig ertastete Carlos mit einer Taschenlampe den Weg, bis wir das Klohäuschen erreichten. Carlos öffnete die Holztür und zielte mit dem Lichtstrahl direkt in das Innere. An einem Pfosten, genau über der Kloschüssel, krallte eine riesige Vogelspinne. "Essa é uma aranha!" Carlos strahlte. Ich überlegte einen Moment, ob ich erst schreien und dann einen Infarkt bekommen sollte oder umgekehrt. "Aber, aber", Carlos amüsierte sich prächtig, "die tut dir doch nichts". In der Tat, sie tat nichts, sie hing nur über dem Klodeckel und streckte ihre Beine aus. Ihre vielen Beine, ihre viel zu vielen Beine. Ihre aufgestellten, fleischigen, pelzbewachsenen, grässlichen Beine. Auch Karien war nicht gerade begeistert. Sie war zwar schon seit drei Monaten hier in tropischen Gefilden unterwegs, doch immer noch nicht lange genug, als dass sie sich mit einer Vogelspinne ein Plumpsklo teilen wollte. Also für den Rest des Abends kein Mineralwasser mehr.

Jorge rief zum Abendessen, es gab Fleisch mit Fisch für alle bzw. Reis mit Salz für mich. Ich sollte die nächste Zeit nichts anderes zu essen bekommen. Doch es machte mir nichts aus; angesichts der Hitze und der Fülle an neuen Eindrücken vergaß ich meinen Hunger. Zum Unverständnis der anderen. Sie nahmen an, dass ich aus gesundheitlichen Gründen kein Fleisch äße. Doch jetzt eine ethische Diskussion über den Vegetarismus an sich zu führen, hielt ich hier für etwas unangemessen. "Ich bin einfach… anders", sagte ich mit gespieltem Pathos in der Stimme. "Anders", sprach Ruiz beschwichtigend, "das ist nur eine Frage der Perspektive."
Es war erst sieben Uhr und fühlte sich an wie tiefe Nacht, als wir uns aufmachten zur Versammlung. Die Sterne prangten zu tausenden am Himmel, als hätten sie sich auch versammelt für diesen Anlass. Die Dorfälteren setzten sich geschlossen in einen Klassenraum der Grundschule. Es waren nicht besonders viele, denn das Höchstalter betrug in Gemeinden wie dieser gerade mal 57 Jahre. Die Menschen hier nennen sich caboclos, Mischlinge europäischer und indianischer Herkunft. Sie sind eher klein und kräftig, die Augen oft mandelförmig, die Wangenknochen stark nachgezeichnet. Die Hautfarben changieren von karamell bis kaffeebraun, lauter satte, warme Farben, die photographiert werden wollten.   Das ist Dörthe aus Deutschland, genannt „Dot“, stellte er mich vor. Die Anwesenden nickten höflich, ich wusste nicht, womit sie weniger anfangen konnten – mit meinem Namen oder meiner Herkunft. Wie nun eine elektrische Wasserpumpe funktioniere, eröffnete Carlos die Gesprächsrunde. Unter Anleitung der Entwicklungshelfer sollten die Dorfbewohner sie installieren und diese später alleine weiter am laufen halten.   Konzentrierte Stille im Raum, eine schwüle Hitze hing über den Köpfen. Ein Mann, der älter aussah, als er wahrscheinlich war, stand auf und fragte: "Wie wird das dann aussehen? Werden wir die ganze Zeit fließend Wasser haben?” Er sprach sehr langsam, als müssten sich die Worte erst durch seine vielen Zahnlücken kämpfen. Ruiz erklärte, dass man für eine Wasserpumpe Strom bräuchte, am besten in der Form eines Generators. Der Generator würde mit Benzin angetrieben werden müssen, und für das Benzin müssten die Dorfbewohner selbst aufkommen. “Und wenn wir nur zu bestimmten Zeiten die elektrische Pumpe nutzen?”, fragte eine Frau in der vorletzten Reihe. “Dann könnten wir alle möglichst viel Wasser in großen Bottichen bunkern und bis zum nächsten Tag aufbrauchen.” Ruiz hielt dies für eine gute Sparmaßnahme. So ungefähr muss der Inhalt der Diskussion ausgesehen haben. Ich hatte von all dem nichts verstanden und eigentlich an nicht viel mehr gedacht als an eine große, eisgekühlte Apfelschorle.   Zwei Stunden später setzte jeder noch mal zu einem Schlusskommentar an. Jorge fasste zusammen, Ruiz sprach zur Lage der Nation, Karien enthielt sich, Carlos referierte für sie mit, dann drehten sich plötzlich alle zu mir um. Ich öffnete die Augen, die Fata Morgana- Apfelschorle zerklirrte im Geiste. Ich holte Luft und sprach: "Dieses… Dorf… ist… sehr… schön." Mein erster öffentlich ausgesprochener Satz auf portugiesisch. Er brachte die Diskussion nicht gerade weiter, doch wenigstens konnten nun alle lachend nach Hause gehen.   

Jorge leitete uns mit seiner Taschenlampe um zu dem Tante Emma Laden, den der Kapitän mittlerweile zur Bar umfunktioniert hatte. Bier musste nachgeladen werden. Ein paar wortkarge Männer waren gleicher Ansicht.   Wir tranken langsam und gingen früh zu Bett, das Auf und Ab der Sonne dirigierte nun den Rhythmus. Ich lernte, dass Mosquito- Netze eine feine Sache sind, nicht aber in Kombination mit Hängematten. Trotzdem hing ich es auf und erschwerte die Enden mit meinen Armen und Beinen. Schnell war es still im Dorf. Grillen zirpten im Konzert, unterbrochen von entfernten Vogelrufen.  

Frühmorgens, es war noch finster, krähten die Hähne im Canon, weckten erst die Hunde, dann auch mich auf. Ich wusch mich mit ein paar Erfrischungstüchern und fühlte mich danach in etwa so frisch wie ein spanischer Straßenhund. Es gab kein Wasser, keinen Strom, und die einzige Toilette war von einer Vogelspinne besetzt. Aber das war egal, solange die Palmen im Wind wehten und der Amazonas in kleinen Wellen an Land rollte. Noch hatte ich nicht herausgefunden, wo die Hauptstrasse hinführte, also folgte ich ihrem Verlauf. Drei Kirchen konkurrierten gegeneinander, jede kaum größer als ein Vorstadt- Kiosk. Die ausgeübte Religion: katholisch, bzw. synkretisch, ein Kompromiss mit der Naturreligion der Vorfahren. Dann ein Fußballplatz, dann ein paar vereinzelte Häuser, alle aus Stroh, dann lange nichts. Palmen schaukelten ihre grünen Kokosnüsse, hier und da zuckte eine Schlange durch die Gräser, versteckte sich vor den donnernden menschlichen Schritten, die auf sie zukamen. Am Ende der frei geschlagenen Schneise sperrte eine Wand von dicht wuchernden Bäumen und Büschen den Weiterweg. Ich lugte um die Ecke, um einmal dem Regenwald nah zu sein, dann machte ich mich wieder auf den Rückweg. Die anderen waren mittlerweile aufgewacht. Auch die Spinne musste bereits aufgestanden sein, denn sie war nicht mehr in dem Klohaus. Schön, dass sie nun nicht mehr hier war. Doof, dass sie nun irgendwo anders war. Während die anderen sich im Fluss wuschen, ging ich mit einem Eimer Wasser in die Duschkabine. Sie sah etwa so aus wie das Klohaus, roch auch so, hatte aber dafür keine unerwünschten Gäste. Das hatte ich vorher genau nachgeprüft. In meinem Duschwasser schwammen kleine, graue Fädchen. Ich rechnete nach, wann Jorge das letzte Mal Wasser gepumpt hatte, wie lange wohl schon dieses Wasser nun in dem großen Bottich in der Hitze stand und  wo nun mehr Keime umherschwammen, im Amazonas oder in diesem Bottich. Ich ahnte, dass meine Ratgeber von zuhause mich nicht weit bringen würden.

Der Kapitän teilte uns mit, dass er erst zum Nachmittag hin uns zurück nach Santarém bringen würde. Das war uns nur recht, denn direkt am Flussufer wehte eine leichte Brise, so dass sich dort die Hitze sehr gut aushalten ließ. Auf der Außenterasse des Tante- Emma- Ladens spannte ich unter dem Strohdach meine Hängematte auf und begann mit der Lektüre meines Portugiesisch- Lernbuches.   Diese Hängematten- Philosophie gefiel mir immer mehr. Ich überlegte, ob dieses Prinzip auch in Deutschland funktionieren würde. Du möchtest nach der Party bei mir übernachten? Klar, such dir eine Hängematte aus. Der Zug nach Mannheim hat Verspätung? Kein Problem, dann schlafe ich noch ein bisschen zwischen Gleis 2 und 3.   Es tut mir leid, der Chef ist gerade in einer Besprechung, nehmen Sie doch schon mal Platz in der Hängematte. “Das ist wie im Paradies”, sagte ich zu Karien, die nachgekommen war. “Das ist das Paradies”, antwortete sie.   Am Ufer legten Männer mit ihren Fischerbooten an und demonstrierten  an ihren Handinnenflächen stolz die kleinen Bisswunden von frisch gefangenen Piranhas. Carlos kam mit seiner Hängematte nach, er hatte sich etwas verspätet. Er hatte noch einen unaufgeforderten Gast heraus komplimentieren müssen: unsere vermisste Vogelspinne. Carlos hatte für ihr Erholungsbedürfnis   vollstes Verständnis. "Sie kommen nicht uns zu nah, sondern wir ihnen. Die Natur war lange vor uns hier."


Zum Nachmittag hin beluden die Männer aufs Neue das Schiff. Die Frau des Kapitäns brachte Karien und mir eine Schüssel mit warmer Bananenmilch zum Probieren. “Ich habe noch etwas, das ich Dir zeigen möchte”, sagte sie zu mir und nahm mich mit zur Theke ihres Tante Emma- Ladens. Sie zog sich Einmalhandschuhe über und griff nach etwas in dem Regal hinter ihr. Mit einer behutsamen Handbewegung holte sie eine mittelgroße, unbehaarte Spinne hervor. "Sie machen nachts Musik. Ein bisschen wie...“ Sie imitierte ein leises Klopfen: „Tum- tu- tum- tu- tum.“


Die Frau des Kapitäns, die Kinder und die Spinne standen am Ufer und winkten uns hinterher. “Dot, wir werden dich nicht vergessen”, soll die Frau des Kapitäns zu uns beim Abschied gesagt haben. Ich hatte es nicht verstanden, wie ich so vieles hier nicht verstanden habe.

Bald wird das Dorf Strom und fließendes Wasser haben, und irgendwann wird in jedem Haus ein Fernseher stehen, bald wird jeder die allabendlichen Telenovelas abrufen können, die   Serien über die Probleme der weißen Oberschicht aus Rio und São Paulo.


Langsam schwankte unser Boot durch die Fluten und ließ Santana hinter sich. Eine von vielen versteckten Flussgemeinden, doch jede wie ein kleine, hinter Palmen und Flussbiegungen versteckte Perle; eine Perle, die erst im Dreck gefunden werden muss – wenn sie denn gefunden werden will.

Es war dunkel geworden, wieder viel zu schnell. Die Grillen und Frösche stimmten zu ihrem allabendlichen Konzert an. Schwarz zeichnete sich der Regenwald am Ufer ab, undurchdringbar, undurchschaubar. Mit einem Plopp öffnete Karien unsere Bierflaschen oben auf dem Dach des Amazonasbootes. Es war das einzige menschliche Geräusch weit und breit.

Vielen Dank an Britta Schlüter für die Vermittlung!

Nach oben