Dörthe Eickelberg
Augen Unterschrift

Publiziert in der Weihnachtsausgabe 2005/2006 des Kunstmagazins "Schöngeist". Erhältlich deutschlandweit im Bahnhofsbuchhandel oder in ausgesuchten Kiosken. www.apodion.de

Über den Glauben

Dienstag, 1. November, Reykjavík

Hermundur entstieg seiner Wohnung wie seinem Schiff einst Hägar, der Schreckliche. Seine seidig blonden Haare wehten auf die in karogemustertes Flanell gehüllten Schultern hinab. Mit elastischem Schwung setzte er seine schlank zulaufenden Lederstiefel auf die Stufen, er gab uns einen sanften Händedruck. „Ich war schon immer seltsam. Ich habe mehr Elfen in meinem Freundeskreis als Menschen.“

Das war sein erster Satz.

Im Winter 2002 reiste ich mit meiner Kamerafrau Katinka Kocher nach Island, um einen Dokumentarfilm über Elfen zu drehen. Island hat 280 000 Einwohner. Jeder zweite von ihnen, so die Statistik, glaubt an die Existenz von Elfen. Elfen, so heißt es, halten sich versteckt und offenbaren sich nur ausgesuchten Menschen. Wie Hermundur. In seltenen Momenten, in denen er eins mit der Natur ist, nehmen die Elfen mit ihm Kontakt auf. Hermundur bekäme hierfür in Deutschland wahrscheinlich einen Stammplatz in der Neurologie. In Island bekommt er eine eigene Radioshow.

„Als Kind habe ich viel in den Wiesen hinter unserem Haus getobt. Meine Spielkameraden waren so groß wie ich und trugen altmodische Kleider. Einmal schickten sie mich unter einem Vorwand nach Hause. Minuten später brach ein Schneesturm aus. Erst später begriff ich, dass es Elfen waren. Sie hatten mich beschützt.“ Hermundurs Haare knisterten, er stand gefährlich nah an der Heizung. Mittlerweile war es dunkel geworden, und mit der Dunkelheit kam von draußen die Kälte. Eine Sekunde zu lang das Fenster geöffnet, und unsere Hände wollten keine Handschuhe mehr tragen, sondern zugeklappte Waffeleisen.

„Wo finden wir die Elfen?“ fragte ich – eine Frage, die ich noch oft stellen sollte in Island. Hermundur überlegte kurz. „Elfen leben in ihrer eigenen Welt. Ganz mit der Natur, im reinen mit sich. Doch wehe dem, der ihre Ruhe stört. Elfen können sehr rachlustig sein. Selbst Isländer, die nicht an Elfen glauben, sehen sich vor.“

Ich wollte einen filmischen Beweis für oder gegen die Existenz der Elfen finden. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen – wie dreht man einen Film über Protagonisten, die unsichtbar sind? Doch die Frage lässt sich weiter denken: wenn unsichtbare Wesen in einer sichtbaren Welt leben, also in Steinen, dann müssen sie ja trotzdem Spuren hinterlassen. Zum Beispiel, wenn sie ihre Behausungen verlassen... Also halfen wir ein wenig nach: mithilfe der Stoptrick- Technik. Tote Materie lässt sich so in Bewegung setzen, Bild für Bild, Stein für Stein. Auf dem fertigen Film würde es hinterher so aussehen, als rollten die Steine von alleine - von Geisterhand. Ein einfacher Spuk, der die Zuschauer denken lässt: habe ich da gerade etwas gesehen? Oder habe ich mir das eingebildet?

„Du siehst, wenn du glaubst“, sprach Hermundur. „Oder du glaubst, wenn du siehst“, dachte ich. Katinka wechselte erneut die Videokassette und schüttelte ihre müden Glieder. Es wurde langsam Zeit aufzubrechen. Am nächsten Morgen mussten wir zu zweit nach Ost- Island fahren, im Rahmen eines Stipendiums konnten wir dort in einem alten Landhaus wohnen und die Steinaufnahmen machen. Draußen übte das Wetter gerade für „Die große Sintflut, Teil 2“. Der Wind nahm Anlauf und jagte eisigen Hagel über die Ebene. Um uns herum nur a nthrazitgraue Lava - lauter buckelige Steine, die sich bis zum Horizont streckten, wie ein schlafendes Tier, auf dessen Rücken Eiskrümel schmelzen.

Ich komme aus Nordrhein- Westfalen und lebe in Berlin. Ich bin aufgewachsen auf glatt asphaltierten Straßen; Felsen und Steine sind beiseite geräumt. Bei mir zuhause ist der Himmel zugestellt. Der Mond wandert im Rücken der Schornsteine, unbemerkt und unbeachtet. Der tägliche Sonnenaufgang ist in etwa so magisch wie das tägliche Klingeln des Weckers. Für Elfen und andere Naturgeister ist hier kein Platz.

Ich hatte schon immer eine Sehnsucht nach Island. Als wäre ein Teil von mir schon einmal da gewesen. Als könnte ich dort etwas wiederfinden, was ich damals auf dem Rückweg verloren habe.

Heute haben wir für alles die freie Auswahl. Kann man sich auch seinen persönlichen Glauben zusammen stellen?

Unvermittelt schaute Hermundur uns durch die Kamera an. „Ich glaube, Ihr werdet etwas sehen im Osten.“ Langsam nickte er zu sich selbst, als höre er einer stummen Stimme zu. „Es wird kein Geist sein. Aber etwas, das Ihr Euch nicht erklären könnt.“ “ Unserer Erfahrung nach sind die Elfen ja ziemlich kamerascheu ” , kommentierte ich.

Hermundur überlegte und antwortete: “ Manchmal können Kameras etwas offenlegen, was man mit bloßem Auge nicht sehen kann. ”

Ich glaube nicht an Dinge, für die es keine rationale Erklärung gibt. Heute lässt sich fast alles rational erklären. Also bleibt auch nicht viel übrig, woran man noch glauben kann. Mit der Religion verhält es sich heute ähnlich wie mit der Politik. Sie ist durchschaut, entlarvt, entmystifiziert. Buddhismus, Hinduismus, Kommunismus; die drei Weltreligionen und die Monarchie – haben wir alles schon gehabt, ist leider nicht mehr haltbar, ist teilweise schon abgelaufen. Aber der Hunger bleibt.

Sonntag, 1. Dezember, Höfn

Wir wachten auf von der Stille, die uns plötzlich umgab. Über Nacht hatte es aufgehört zu regnen. Der Himmel sortierte seine Wolken neu und streckte sich im vormorgendlichen Blau. Es war fast zehn Uhr, doch die Sonne lag noch im Schlaf. Die Lichter der Boote betrachteten sich im spiegelglatten Hafenbecken. Euphorisch bediente der Tankstellenwärter den Kaffeeautomaten. “ Das wird der erste regenfreie Tag seit Wochen! ” Mit dem Sonnenaufgang begrüßten uns die Berge – kurz zuvor noch in den Regenwolken versteckt, posierten sie nun so nah und deutlich, als hätte jemand sie hier in der Nacht heimlich abgestellt. Und als hätte über Nacht auch eine neue Eiszeit begonnen, leckten Gletscherzungen an den undichten Stellen. In den Lagunen, zu Füßen der Gletscher, schaukelten Eisschollen auf und ab - tiefgefrorene Ungetüme, gähnend und zähneknirschend unter ihrem eigenen Gewicht. Mit jeder schwerfälligen Bewegung sonderten sie kalte Schuppen von ihrer Haut ab, krachend versanken sie im See.

Der Regen hatte sich in den Unebenheiten der Wiesen gesammelt. Der Gletscher spiegelte sich in den unzähligen zersplitterten Scherben auf dem Boden, in jedem kleinen Wasserloch fand sich sein klares Blau wieder, so dass der Anblick einer popeligen Pfütze etwas göttlich Erhabenes ausstrahlte. Wir fuhren weiter. Doch wir fuhren nicht auf Asphalt, wir fuhren über einen Wunschzettel, erträumt in einem kühnen, unverschämten Moment. Punkt für Punkt erfüllten sich unsere Ansprüche vor der Windschutzscheibe: ein vielarmiger Gletscher, schön blau und sauber soll er sein, bitte, dazu möglichst dramatische Wolkenspiele, dann soll sich langsam, ganz sachte, der Himmel abendrot färben, aber nicht zu rot. Wir machten Halt. Ich kauerte mich auf Augenhöhe mit einer Wasserlache und fokussierte die faltige Eismasse vor mir. Auf flacher Ebene hielt sie inne und kühlte die Häuser vor sich, wie lange schon? Die Häuser, ein Wimpernschlag im Zeitverständnis des großen Gletschers, duckten sich wie Spielkartentürme im seinem Schatten. In seinem leuchtenden Türkis, eingefroren bis in die inneren Schichten, hütete der Gletscher ein Geheimnis: die Antwort auf alle Fragen, schockgefroren und für immer konserviert. Der Wind filterte die Gedanken, und die Zeit hielt den Atem an. Mir fiel wieder ein, weshalb ich schon immer nach Island wollte und wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte: es war dieser Moment.

Donnerstag, 5. Dezember, Keflavík

Der isländische Pilot gab in drei Sprachen durch: „Das Wetter in Frankfurt ist gut, es ist 4 Grad und regnet.“ Katinka und ich bekamen davon wenig mit. Wir hatten es gerade noch geschafft, uns anzuschnallen, verfielen dann in ein dreistündiges Koma und wurden erst wieder wach, als der Flieger auf dem Rollfeld in Frankfurt parkte. In München ließen wir das Filmmaterial entwickeln und abtasten. Auf den Bildschirmen sollte sich offenbaren, was wir in den letzten Wochen gedreht hatten: all die Steine, die wir ins Rollen gebracht hatten. Was wir aber sahen, waren nichts als lange Schleier von Lichtschlieren. 70 % unseres Filmmaterials war zerstört. Diagnose: Kameraschaden. Ursache: ungeklärt.

  “ Ihr werdet etwas sehen ” , sprach Hermundur. “ Irgend etwas, das Ihr Euch nicht erklären könnt. Ich hoffe, Ihr bekommt es auf den Film. Manchmal können Kameras etwas offenlegen, was man mit bloßem Auge nicht sehen kann. ”

Gibt es Elfen da draußen? Ich glaube nicht. Lügt Hermundur uns an? Ich glaube nicht.

Im Frühling 2003 reisten Katinka und ich erneut nach Island. Für die Isländer war die Sachlage klar. Ihr habt einfach so Steine bewegt und gefilmt? Ohne die Elfen um Erlaubnis zu fragen? Und da wundert Ihr Euch jetzt, dass Euer Filmmaterial zerstört war? Katinka und ich filmten erneut die Steine. Doch diesmal baten wir Hermundur um einen kleinen Gefallen: er sollte für uns die Elfen anrufen, um sie um Drehgenehmigung zu fragen. Auf einem Felsen außerhalb Reykjavíks opferten wir gemeinsam ein paar Münzen für das Gelingen des Films. Nur zur Versicherung.

Das Filmmaterial kam wohlbehalten in Deutschland an.

Dörthe Eickelberg

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